Künstliche Empathie
Begleitartikel zum Symposium im Museum Angewandte Kunst, Frankfurt, 24. März 2017
Ein Text von Sinja Möller, Pia Scharf, Florian Arnold und Judith Block
Wir befinden uns an einer Zeitenwende. Wir betrachten unsere Hightechmaschinen - und sie schauen zurück. Maschinen können uns als Individuen erkennen, vielleicht können sie sogar einen Eindruck davon gewinnen, wie es in unserem Inneren ausssieht.
Viel zu häufig wird der Begriff der Revolution verwendet, wenn technologische Innovationen unsere Märkte in Bewegung bringen. Oftmals haben diese dann einen erheblichen Einfluss auf ihr bestehendes Umfeld, selten aber das Potenzial der grundsätzlichen Umstürzung des gesellschaftlichen Kontextes, in dem sie entstanden sind. Die Digitalisierung hingegen birgt tatsächlich ein revolutionäres Potenzial in sich, fördert sie doch nicht nur täglich Neuerungen im technologischen Bereich zu Tage. Sie ist gleichzeitig der Nährboden vollkommen neuartiger Kommunikationssysteme, die unsere Gesellschaft, unsere lokale und globale Politik und das kulturelle Schaffen weltweit durchdringen und durch die allgegenwärtige Vernetzung miteinander verbinden. Dabei sind es die unzähligen Vorzüge und Annehmlichkeiten, die uns zugleich für die Schattenseiten einer Entwicklung blind werden lassen. Eine Revolution kommt oft im Gewand des Heilbringers daher, birgt aber gleichermaßen das Potenzial der völligen Zerstörung der Umstände in sich, aus denen sie erwächst. Wenn darum gegenwärtig Fragen wie die nach dem Vermögen menschlicher Empathie besondere Aufmerksamkeit finden, dann geht dieser Trend wohl nicht zuletzt auf neuere technologische Forschungen zurück, die im Begriff sind, eine weitere Grenze zwischen Mensch und Maschine einzureißen.
Wir sind erstmals an dem Punkt angelangt, an dem sich Technologien zu schnell entwickeln, als dass man ihnen auf diskursiver Ebene ohne weiteres folgen und sie derart in einem gesellschaftlichen Kontext verorten könnte. Hatte Rosalind Picard schon Mitte der 1990er von einem affective computing gesprochen, das erstmals die Emotionalität von Menschen in den Forscherblick der Informatiker und Programmierer rückte, so galt dieser Anspruch doch noch als zu weit ab vom dem damals Möglichen. Heute hingegen ist für viele kaum noch unterscheidbar, ob eine innovative Funktion oder Eigenschaft unmöglich ist, gerade entwickelt oder sogar bereits eingesetzt wird. Bei der unfassbaren Geschwindigkeit technologischer Entwicklungen fällt es immer schwerer, den Überblick zu behalten.
Nachdem wir schon erkennen mussten, dass Kreativität kein menschliches Monopol mehr darstellt, schien uns zumindest durch hochkomplexe Empathie-Verhältnisse zwischen Menschen noch eine gewisse Sonderstellung gewahrt und haltbar. Durch Mimese und Rollenspiele lernen wir bereits als Kind, uns in andere Situationen hineinzuversetzen. Wir imitieren, wir fühlen uns ein, bisweilen kommt es sogar zu Erlebnissen, die Psychologen als Einswerden bezeichnen. Fakt jedoch ist, dass sich auch eine affektive und kognitive Empathie zunehmend künstlich simulieren lässt. Mit anderen Worten: Maschinen lernen mehr und mehr, (uns) zu erkennen und (uns) zu imitieren. So gewinnt man den Eindruck, dass Maschinen uns letzten Endes alle Kompetenzen streitig gemacht haben werden, die wir zuvor noch für zutiefst menschlich halten durften.
Maschinelles Lernen als Voraussetzung, um personalisiertes Wissen zu generieren, begegnet uns heute schon nahezu überall dort, wo intelligente Systeme auf scheinbar magische Art und Weise die Wünsche ihres menschlichen Gegenübers antizipieren. Facebook, Amazon und Google sind dabei die Global Player. Aber auch ein maschinelles Einfühlungsvermögen greift in Form von neuronalen Netzwerken bereits überall um sich. Künstliche Programmstrukturen, die sich am Aufbau des menschlichen Gehirns orientieren, erlauben dabei über die Auswertung von Ausgangsdatensets Schlüsse auf zukünftige Ereignisse. Personifizierungen à la „Sage mir, welche Bands du magst, und ich weiß, welche Neuerscheinungen dir gefallen“ sind dabei zur Gewohnheit geworden: Spotify und ähnliche Onlinedienste gleichen sich selbst schreibenden Wunschzetteln. Darüber hinaus ist eine künstliche, einfühlende Intelligenz zunehmend in der Lage, ihr Gegenüber zu kategorisieren und sich profilgenau gar in ganze Personengruppen einzufühlen, ohne dabei noch auf eine Erfahrung von Angesicht zu Angesicht angewiesen zu sein. Eine auf den Nutzer zugeschnittene Dienstleistung wird so auf Massen übertragbar, womit sich die künstliche Empathie selbst als entscheidendes Instrumentarium entpuppt, den kommerziellen Nutzen zu steigern.
Die Quantität der Daten, die für eine „gelungene Einfühlung“ notwendig sind, fallen dabei überraschend gering aus, wie eine Studie von 2015 belegt. So ist es den sozialen Netzwerken, allen voran Facebook, mittlerweile möglich, genauere Aussagen über die Vorlieben ihrer Nutzer zu tätigen als deren Kreis von Bekannten und Freunden, deren Familie und selbst der eigene Ehepartner. Ausgehend von einer gewissen Anzahl von Likes, die man mehr oder weniger bewusst als Datenspur auf Facebook hinterlässt, erstellte der Facebook-Algorithmus zunächst Persönlichkeitsprofile von 86 220 Freiwilligen, die darauf mit den gegebenen Antworten in persönlichen Fragebögen verglichen wurden. Die Ergebnisse sind erstaunlich und erschreckend zugleich: Ab 70 Likes weiß Facebook mehr über uns als unsere Bekannten, ab 150 mehr als unsere Familienangehörigen und ab 300 Likes liest uns das System unsere Wünsche womöglich besser von den Lippen, bzw. Likes ab als unsere Liebste oder unser Liebster es jemals könnte. Die hierfür nötige künstliche Intelligenz speist sich nicht aus der angehäuften Datenmasse über einen Nutzer, sondern folgt aus dem In-Beziehung-Setzen aller Nutzerdaten und schafft so eine ganz eigene Erzählung. Künstlich empathisches Verhalten ist desto erfolgreicher, je mehr Daten im gesamten System zur Verfügung stehen.
Wie verändert diese Entwicklung nun aber unser Verhältnis zum Künstlichen und doch Intelligenten? Betrachten wir heute noch mit Erstaunen die ungeheure Treffsicherheit, mit der es beispielsweise den Amazon-Algorithmen gelingt, brauchbare Empfehlungen für uns auszusprechen, so wird man sich mit der Zeit daran gewöhnt haben, unterschiedliche Algorithmen unterschiedlicher Anbieter gleichsam die Vormundschaft über das eigene Leben zu übertragen. Zahlen, Quoten, Statistiken dienen jetzt bereits als Orakel der Quantify-Yourself-Bewegung. Doch bald könnten sie sogar den eigenen Lebensweg besser als die eigene Phantasie vorzeichnen, weil sie ihn bereits besser nachzuzeichnen verstehen als das eigene Gedächtnis.
So steht schon jetzt mit jeder Suchanfrage auch die Frage im Raum, ob wir uns selbst womöglich nicht mehr besser verstehen, als diejenigen Algorithmen und Künstlichen Intelligenzen es tun, mit denen wir uns umgeben. In Sachen Empathie stoßen wir damit an eine Grenze, deren Überschreitung das komplette Menschenbild kippen lassen könnte. Es erwartet uns eine Zukunft von benutzerfreundlichen, humanoiden Interfaces, die uns weniger in Frage stellen, als in Blasen einlullen werden. Doch gesetzt es kommt soweit, dass wir uns in jeglicher Hinsicht bedienen, beraten und versorgen lassen: Werden wir dann überhaupt noch wissen, was wir wollen? Werden wir blind für das, was wir nicht erwarten? Oder werden wir nur noch registrieren, dass wir etwas wollen und uns dann von unseren künstlichen Assistenten erklären lassen, was es mit diesem Willen und seiner Befriedigung auf sich hat?
Falls es einmal so weit kommen sollte, dürften wir immer weniger dazu in der Lage sein, mit eigenen empathischen Fähigkeiten die Bedürfnisse unserer Mitmenschen zu lesen, nachzuempfinden und ihnen menschliche, profitunabhängige Reaktionen zu zeigen und persönlichen Rat zu geben. Wenn wir Siri nicht mehr Danke sagen, vergessen wir es dann auch im wirklichen Leben? Auch die digitale Kommunikation, z.B. via WhatsApp, in denen wir uns kurzfassen, in denen wir Emotionen durch standardisierte Emoticons ausdrücken und in denen wir reale Mimik und Körpersignale weder senden, noch empfangen können, trägt nicht gerade dazu bei, uns in empathischem Verhalten zu üben. Unser Empathievermögen liefe Gefahr zu verkümmern, was auch uns selbst nicht unberührt ließe.
Unsere traditionelle Individualitätsvorstellung wird in Zukunft wohl immer deutlicher darunter leiden, dass sie sich im multimedialen Spiegelkabinett als eine Dividualität gegenübertritt, die die unterschiedlichsten Fäden, die in ihr zusammenlaufen, bloß noch zu einem kleinen Netzwerk in einem bedeutend größeren Netzwerk zu verknüpfen vermag. So hat es manchmal beinahe schon den Anschein, als ob wir die Empathie sogar für unser eigenes Selbst verlieren könnten. Denn mittlerweile sind es oft Maschinen, die wir zwar immer weniger verstehen, die uns aber desto besser verstehen, je weniger wir uns noch zu verstehen glauben - ohne sie.
Gerade das Design spielt hierbei eine entscheidende Rolle – wenn nicht gar die entscheidende Rolle – im Hinblick auf diese fortschreitende Verschränkung von Mensch und Maschine. An den Schnittstellen als Gestaltungsflächen entscheidet sich, ob man von einem annäherungsweise menschlichen Interface und der damit ermöglichten Kommunikation zwischen Subjekt und Objekt sprechen kann oder ob man es gleichsam mit einer toten Fläche zu tun hat. Bereits jetzt ist nachgewiesen, dass wir ein durchaus empathisches Verhältnis zu Maschinen aufbauen, denen wir Intelligenz zutrauen. So hüllen wir etwa unsere Smartphones in Schutzkleidung und zucken instinktiv zusammen, wenn wir Bilder betrachten, in denen sich ein Roboter in die Hand schneidet.
Je mehr wir aber hinter bloßer Technik ein menschenähnliches Wesen vermuten, desto schneller neigen wir zu vergessen, dass eben jenes mit einer dahinterliegenden Absicht von Menschenhand programmiert wurde. Cui bono? Wer profitiert von unserer Zuneigung? Und ebenso umgekehrt: Wer profitiert davon, dass Maschinen unsere Gefühle lesen lernen? Ungeachtet der naheliegenden, freilich zutreffenden Antwort, die einen unermesslichen Markt von neuen Anbieter- und Nutzer-Blasen benennt, lohnt es sich längerfristig weiterzufragen nach anderen Profiten und zwar zwischenmenschlichen.
Selbst die empathischste KI wird uns nicht davon befreien können, als Menschen untereinander ein Auskommen finden zu müssen. Sie wird uns vielmehr dafür frei machen, Fragen des Politischen auf eine neue Weise und in einem neuen Forum der Öffentlichkeit stellen und womöglich auch beantworten zu können. Wenn es ein menschliches Ziel für eine künstliche Empathie gibt, so besteht es darin, Empathie zwischen Menschen sowie jede Form von Perspektivwechsel neu zu ermöglichen und weiter zu vereinfachen. Birgt die digitale Revolution auch keine direkte Verpflichtung zu einem Global Consciousness in sich, so scheint sie doch mehr und mehr Menschen Mittel an die Hand zu geben, an einem umfassenderen Verantwortungsbewusstsein zu arbeiten.
Wir werden lernen, künstliche Intelligenzen zu nutzen, um kulturelle Differenzen übersetzbarer zu machen, bestimmte Grenzen der Anerkennungslogik zu überwinden und so ein Sich-Hineinversetzen dort zu ermöglichen, wo es uns derzeit noch unmöglich erscheint. Der eigentliche Profit bestünde also darin, künstliche Empathie nicht allein als Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine, sondern zwischen Mensch und Mensch einzusetzen: zwischenmenschliche Kommunikation mithilfe von Maschinen. Als künstlich-kunstvoller Übersetzer zwischen Menschen, die sich manchmal weder untereinander noch selbst ganz verstehen, leistete künstliche Empathie einen willkommenen Dienst. Erst indem wir Künstliche Intelligenzen als Helfer verstehen lernen, können auch wir uns von unseren bisherigen empathischen Grenzen weiter emanzipieren und auch untereinander womöglich zu einem besseren Verständnis gelangen.
Ob angesichts der revolutionären digitalen Entwicklung ein globales Zeitalter der Empathie zu erwarten ist, lässt sich dabei jedoch nicht ohne weiteres sagen. Nicht alle Konflikte beruhen auf Missverständnissen. Doch selbst für diejenigen Fälle, in der menschliche Empathie manchmal auch zu weit geht, um einen sachlichen Blick auf die Verhältnisse aufrechtzuerhalten, mag ein nichtmenschlicher Dritter, als Übersetzer und Vermittler, von unschätzbarem Nutzen sein. Man stelle sich den Menschen der Zukunft als verständlicheres womöglich auch verständigeres Wesen vor.