Waldsterben
Wir können die toten Bäume anschauen und merken, dass wir nicht bereit sind, uns von den Wäldern zu verabschieden. Wir können um den Wald genauso trauern, wie um den Tod eines Familienmitglieds oder den Verlust einer Heimat.
Häufig betrachten wir den Klimawandel als einen Vorgang, den wahrzunehmen wir nicht in der Lage sind. Das Paradox, das wir hierbei sehen, ist ähnlich zu dem, das eine Fliege auf dem Biertisch hat.
Die Facettenaugen der Fliege können die Welt umfassend aufnehmen und blitzschnell verarbeiten. Die Schnelligkeit der Verarbeitung ist ausschlaggebend dafür, dass die Fliege überlebt, denn fast alle ihre Feinde jagen mit hohen Geschwindigkeiten. Sitzt eine Fliege auf dem Tisch eines Biergartens, dann entwischt sie jeder Hand, die versucht, sie zu erschlagen.
Schnelle Bewegungen kann die Fliege aus fast jeder Richtung auf sich heransausend sehen und darauf rechtzeitig reagieren. Ihre Wahrnehmung ist jedoch nicht darauf ausgelegt, langsame Veränderungen wahrzunehmen. Nähert sich also eine Hand ganz langsam und ohne zittern, dann flieht die Fliege nicht.
Wir Menschen haben ebenfalls Schwierigkeiten, Veränderungen in der Umwelt wahrzunehmen, wenn sich diese über längere Zeitspannen in ihr Leben einschleichen. Meist fokussieren wir uns auf Veränderungen, die etwa in der Geschwindigkeit passieren, in der sich auch menschliches Handeln vollzieht. Das Abschmelzen der Polkappen bleibt deshalb ein Problem, das uns etwa so sehr trifft, wie eine schwierige Textaufgabe im Matheunterricht. Wir können es als ein Problem erkennen und darüber brüten. Weil wir aber nicht schnell auf einen Lösungsansatz kommen, beschließen wir, dass es nicht an uns ist, diese Lösung zu finden (dafür gibt es doch den Sunay, der besser Mathe als einziger wirklich kapiert) und lassen los.
Das Sterben der Wälder hingegen löst diese langsame Entwicklung ab. Es passiert mit einer Geschwindigkeit, die atemberaubend ist und gräbt ein tiefes Loch in uns, dorthin, wo die Emotionen wohnen. Wir können die toten Bäume anschauen und merken, dass wir nicht bereit sind, uns von den Wäldern zu verabschieden. Wir können um den Wald genauso trauern, wie um den Tod eines Familienmitglieds oder den Verlust einer Heimat. Und wenn wir so weit sind, dann ist der Schritt zu der Erkenntnis nicht weit, dass der Wald unsere Heimat ist. Dass wir nicht nur trauern, wie um den Verlust unserer Heimat, sondern dass wir unsere Heimat verlieren und deshalb trauern.